“Wir beschützen den Regenwald und der Regenwald beschützt uns”
Die Zerstörung des Amazonas bedroht nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch indigene Gruppen und ihre Kulturen – und damit gerade jene, die den Regenwald am effektivsten schützen.
Im September 2023 steht Lucila Mouta de Souza vor ihrem Haus im Bundesstaat Roraima, im äußersten Norden Brasiliens, und wischt sich den Schweiß aus der Stirn. “Wir indigene Frauen beschützen den Regenwald und der Regenwald beschützt uns”, sagt sie und deutet mit dem Arm auf die Felder hinter sich und den angrenzenden Wald.
Die 80-Jährige ist eine Heilerin der Wapichana. Das ist eine indigene Gruppe, die vor allem in Nord-Brasilien und Süd-Guyana lebt. Hier, im indigenen Gebiet Malacacheta, kümmert sie sich um die körperlichen und psychischen Beschwerden von allen, die zu ihr kommen. Lucila hat die Heilkunst von ihren Eltern gelernt. Ihr Vater war selbst Heiler, sagt sie. Ihre Mutter unterstützte ihn. Lucila half den beiden von klein auf. Zum Beispiel, wenn ihr Vater Pflanzen für Medikamente brauchte und Lucila loszog, um sie zu suchen.
Nach und nach lernte sie, wie sie mit den Pflanzen aus ihrer Umgebung anderen helfen konnte – und kümmert sich bis heute nicht nur um Patienten, sondern auch um den Regenwald, der hinter ihren Feldern beginnt. “Schau dich um”, sagt sie. Hier wachse alles, was sie zum Leben brauche – und alles, was sie benutze, um andere zu heilen: Mangos, Caju, Tucuma, Coité, Kaffee, Graviola, Guave, Banane, Zuckerrohr, Avocado, Maniok, Cassava, Ananas, Kartoffel, Jerimum. Alles Pflanzen, die zugleich Nahrungsmittel und Medizin sind.
Solche Pflanzen um sich zu haben, sei ein großer Reichtum, sagt sie – und der müsse beschützt werden, weil er sie selbst beschütze. Es ist eine Logik der gegenseitigen Fürsorge zwischen Mensch und Natur. Oder, treffender: Eine Weltsicht, die Mensch und Natur nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern den Menschen als Teil der Natur. Die Lebensgrundlage des einen hänge von der Existenz des anderen ab. Das gelte umso stärker für indigene Frauen wie sie, sagt Lucila. Denn sie bräuchten den Regenwald zum Leben und Heilen – und der Regenwald sie, damit er überleben kann. Doch beides sieht sie bedroht: Mit der fortschreitenden Zerstörung des Amazonas seien auch immer mehr Pflanzen verschwunden, mit denen sie arbeite, sagt sie – und damit auch das Wissen ihrer Vorfahren, dass sie nicht mehr an ihre Nachfahren weitergeben kann.
Im Angesicht der Zerstörung zieht sie noch eine weitere Parallele: “Wir indigene Frauen erleben Gewalt, wir werden mit Füßen getreten, wir werden misshandelt, wir werden vergewaltigt, wir werden in eine Position gebracht, in der wir keinen Wert haben“, sagt sie, “und das ist das Gleiche, was heute mit dem Regenwald geschieht”.

© Benjamin Hindrichs
Der Amazonas: Ein bedrohtes Ökosystem
Sechs Monate später, im März 2024, bin ich erneut bei Lucila zu Besuch, um mit ihr den Kurzfilm DARU/N zu drehen. Rauchschwaden verdunkeln den Horizont, es ist staubtrocken, das Thermometer zeigt 44 Grad und die Sonne ist nur als entfernt vernebelter, glühender Ball zu erkennen. Jede Nacht wird das Geschrei von Brüllaffen lauter, die auf der Suche nach Schutz vor den Feuern ihr Gebiet verlassen und Zuflucht suchen. Roraima ist in diesen Wochen das Zentrum zahlreicher Waldbrände: Allein in den vier Wochen vor unserem Besuch hat das Nationale Institut für Weltraumforschung (INPE) 2.057 Waldbrände in dem Bundesstaat gezählt.
Lucila und ihre Familie betrachten die nahenden Feuer mit Sorge. Doch der Ausnahmezustand der Zerstörung gehört hier längst zur Normalität. In Roraima ist vom Amazonas-Regenwald nicht mehr viel übrig. Die Landschaft gleicht in weiten Teilen eher einer Savanne – und damit dem, wie die Zukunft des ganzen Amazonas aussehen könnte, wenn es nicht besser geschützt wird.
Eigentlich ist das Amazonasbecken ein Labyrinth aus knapp 1.000 Flüssen. Die Größten entspringen in den Anden, in Bolivien und Peru. Sie werden durch hunderte Zuflüsse gespeist und fließen letztlich wiederum in den Hauptstrom, den Amazonas. Es ist das größte Flussbecken der Welt – und der Amazonas selbst mit 6.400 Kilometern Länge der zweitlängste Fluss der Welt nach dem Nil. Schaut man nur auf das Wasservolumen, ist er der Größte. Ein Fünftel aller globalen Süßwasserreserven liegen hier. Ebenso die größte Biodiversität der Welt und reiche Vorkommen an Gold, Kupfer, Nickel und Eisenerz. Der Regenwald kreiert außerdem ein eigenes Wettersystem, das Brasiliens Landwirtschaft am Leben hält. Und er ist einer der wichtigsten CO2-Speicher der Welt. Also eines der essentiellen Ökosysteme um die Pariser Klimaverträge einzuhalten und die Erderhitzung auf unter zwei Grad zu begrenzen.
Wegen dieser lokalen und globalen Bedeutung plädiert die brasilianische Journalistin Eliane Brum dafür, den Amazonas als “Zentrum der Welt” zu sehen. Was hier geschieht, sei wichtiger als in Sao Paulo, Berlin oder New York, sagt sie. Das gelte insbesondere im Angesicht der vielfachen Bedrohungen des Regenwaldes und seiner Bewohner: Abholzung, illegaler Rohstoffabbau, Soja- und Fleischproduktion und Holzhandel sorgen dafür, dass jedes Jahr mehr Regenwald verschwindet – und befeuern so wiederum die Klimakrise.
Knapp ein Fünftel seiner Fläche hat der Amazonas bereits verloren. Doch das ist noch nicht alles. Studien zufolge könnte der Amazonas den eigenen Kipppunkt bereits erreicht haben und langsam absterben: Etwa 120 Milliarden Tonnen CO2 liegen in Baumstämmen, Böden und Ästen gespeichert. Wenn sie in die Atmosphäre gelangen, würde sich das Weltklima um 0,3 Grad erwärmen. Die Konsequenzen wären fatal – für all jene, die vor Ort leben, aber auch für die globale Gesellschaft. Das Einhalten der Pariser Klimaverträge wäre unmöglich und die losgelöste Erwärmung könnte durch unvorhersehbare Kettenreaktionen auch das Erreichen weiterer Klima-Kipppunkte befeuern.
Wie bedroht dieses “Zentrum der Welt” ist, ist kein Geheimnis. Doch Klimakrise, Fleisch- und Sojaproduktion sowie der illegale Goldabbau bedrohen nicht nur die Tier- und Pflanzenvielfalt des Amazonas-Gebiets, sondern auch die Kulturen jener Menschen, die den Regenwald am effektivsten schützen.
Wenn der Regenwald verschwindet, verschwinden auch zahlreiche indigene Kulturen
Es ist bis heute das Erbe der europäischen Kolonialisierung und der brasilianischen Militärdiktatur, dass wir uns den Amazonas wahlweise als menschenleere Hölle oder unberührtes Paradies vorstellen, in dem Millionen von Tieren und Pflanzen ohne Menschen leben.
In den 1970er Jahren deklarierte das Regime den Amazonas als „
Land ohne Menschen für Menschen ohne Land“. In anderen Worten: Es erklärte eine Region, die dreimal so groß ist wie Frankreich, kurzerhand als “menschenleer” und frei verfügbar für Großunternehmer, Glücksritter, Goldsucher und all jene, die sich ein Stück Land einverleiben wollen. Dabei bevölkerten schon damals Indigene, Ribeirinhos (Gruppen, die am Fluss leben) und Quilombolas (Nachfahren afrikanischer Sklaven, die im Regenwald Zuflucht suchten) das Gebiet.
Archäologen haben dank modernster Technologie inzwischen bewiesen, dass der Amazonas schon seit tausenden Jahren besiedelt ist – und dass die indigene Bevölkerung den Regenwald nicht nur geschützt, sondern vielerorts aktiv gepflanzt und gepflegt hat. Nur galten diese Bevölkerungsgruppen dem Regime eben nicht als Menschen und standen sie der Ausbeutung der Ressourcen der Region im Weg. Also kleidete das Regime wirtschaftliche Interessen und Rassismus in Ideologie: All jene, die bei der Kolonialisierung der “grünen Hölle” halfen, erklärte es zu Helden und Abenteurern im Interesse der nationalen Volksgemeinschaft.
Tausende suchten daraufhin im Norden, der dank neuer Straßenbauprojekte des Regimes immer besser erreichbar und vernetzt war, ihr Glück. Doch das vermeintliche Glück der einen war die Wurzel des Leidens und der Zerstörung der anderen: In den folgenden Jahrzehnten wurde nicht nur ein Fünftel des Regenwaldes abgeholzt, sondern auch tausende Indigene ermordet und vertrieben. Mit ihnen verschwanden auch ihre Sprachen und ihr Wissen: Denn wenn der Regenwald verschwindet, verschwindet auch die Lebensgrundlage vieler indigener Gruppen. Sie müssen ihre Länder verlassen und damit auch die Grundlage ihrer Kultur. Andersherum gilt: Wenn die indigene Bevölkerung verschwindet und verdrängt wird, verschwinden auch die Beschützer des Regenwaldes. Ein Teufelskreis, aus dem im Umkehrschluss folgt, wie der Regenwald zu schützen ist.

© Benjamin Hindrichs
Indigene sind die effektivsten Beschützer von Biodiversität
Zahlreiche Studien zeigen: Indigene Gebiete sind die effektivsten Schutzmechanismen für Biodiversität. Laut einer
Studie beherbergen indigene Gebiete mehr Artenvielfalt als staatliche Schutzgebiete. Eine andere Studie stellte fest, dass mindestens
36 Prozent der weltweit verbliebenen intakten Waldlandschaften auf dem Gebiet indigener Völker zu finden sind. Andere Untersuchungen weisen darauf hin, dass es in Gebieten unter indigener Kontrolle
weniger Abholzung gibt. In anderen Worten: Wer den Amazonas schützen will, muss die Interessen und Rechte der indigenen Bevölkerung stärken. Und wer die Interessen und Rechte der indigenen Bevölkerung stärken will, muss den Amazonas schützen.
In Brasilien gibt es
809 sogenannte Terras Indigenas, also indigene Gebiete. Dort leben 283 verschiedene indigene Gruppen, die 154 Sprachen sprechen. Viele dieser Gebiete sind ein Bollwerk zum Schutz des Regenwaldes – und stehen dennoch unter massivem Druck. Allein in den vergangenen 10 Jahren wurden rund 2000 Indigene im Land ermordet, darunter 795 allein während der Präsidentschaft des rechtsextremen Jair Bolsonaros. Hinter der Gewalt stehen nicht selten die Interessen einer Industrie, die mit Abholzung, Wildtier- und Holzhandel, Fleisch- und Sojaproduktion, oder Rohstoffabbau Milliardengewinne macht.
Das liegt auch an Europa: Allein Deutschland importierte 2023
rund 1,3 Tonnen Gold aus dem Amazonas – obwohl inzwischen bekannt ist, wie tödlich der illegale Goldabbau ist. Quecksilber vergiftet die Flüsse, aus denen Fische als Nahrungsmittel kommen und auf deren Wasser die lokale Bevölkerung angewiesen ist. Und sogenannte
Garimpeiros, Goldsucher, holzen für das Geschäft nicht nur den Regenwald ab, sondern zerstören gleich ganze indigene Dörfer und ermorden und vergewaltigen die Anwohner. Auch unser Fleischkonsum basiert in großen Teilen auf billigem Soja aus Brasilien – und Deutschland
importiert erwiesernmaßen Fleisch von Firmen, die an der Zerstörung des Amazonas beteiligt sind.
Vor diesem Hintergrund haben in den vergangenen Jahren immer mehr Filmschaffende gezeigt, wie der Schutz des Regenwaldes mit dem Schutz indigener Rechte und Territorien Hand in Hand geht: “We are Guardians” von Edivan Guajajara, Rob Grobman und Chelsea Greene, “The Territory” von Alex Pritz, oder die Filme “The Last Forest” und “ The Falling Sky”, die aus der Zusammenarbeit des Yanomami-Führers Davi Kopenawa mit Luiz Bolognesi und Eryk Rocha und Gabriela Carneiro da Cunha entstanden.
Die Sichtbarkeit der Problematik nimmt zu, und das ist wichtig. Aber diese Entwicklung muss noch weitergehen. Wir müssen den Amazonas – um erneut mit Eliane Brum zu sprechen – endlich als Zentrum der Welt begreifen und ihn als Filmschaffende und Journalisten dementsprechend auch ins Zentrum unseres Schaffens stellen.
Mehr zum Thema beim
NaturVision Forum Talk „Naturrechte und Indigene Lebenswelten im Film“
am Sonntag, 29. Juni 2025 um 14:00 Uhr in Ludwigsburg mit Maik Gleitsmann-Frohriep, Carmela Daza und Benjamin Hindrichs
Mehr Informationen
ist Journalist, Filmemacher und Autor. In seiner Arbeit beschäftigt er sich vor allem mit Konflikten, Extremismus und Migration. “DARU/N” ist sein erster Dokumentarfilm. Sein zweiter Film “Survival: A Song” befindet sich aktuell in der Postproduktion, sein erster Langfilm in der Entwicklung.